Im Folgenden werden Aspekte einer allgemeinen Bildanalyse zusammengestellt, welche die Untersuchung eines Bildes unterstützten und etwas Licht in den dichten Wald einer Bildanalyse bringt. Zur weiteren Vertiefung der Werkanalysen siehe das Dossier Visual Literacy und Werkanalyse.
Einleitung
Bilder sind allgegenwärtig. Nicht nur in Alltag und Beruf sind wir täglich mit Bildern konfrontiert. Kaum eine künstlerische oder wissenschaftliche Disziplin kommt ohne Bilder und deren Analyse aus. Dazu gibt es verschiedene Methoden der Bildanalyse, die sich je nach Disziplin oder auch Schule stark voneinander unterscheiden (z.B. in der Kunstgeschichte, Archäologie, Bildwissenschaft, Semiotik, Kommunikationswissenschaft, Medizin, Rechtswissenschaft, Kulturwissenschaft, Naturwissenschaft etc.)
Allen professionellen Analysemethoden ist folgender Ablauf gemeinsam: Zuerst erfolgt die Deskription (Beschreibung und damit die eigentliche Analyse), dann in der Regel unter Zuhilfenahme weiterer Informationen die Interpretation (Deutung und Diskussion). Die folgende Auflistung versucht, Aspekte aus verschiedenen Methoden zusammenzustellen, die für den Ablauf einer Bildanalyse z.B. im kulturhistorischen, gesellschaftspolitischen oder künstlerischen Bereich relevant sein können. Dabei werden die Aspekte in drei Kategorien eingeteilt, die den Ablauf einer Bildanalyse darstellen.
Bevor jedoch ein Bild nach diesem objektiven Verfahren untersucht wird, ist es hilfreich, die subjektiven Eindrücke und Gedanken, die bei der ersten persönlichen Konfrontation mit dem Bild ausgelöst werden, stichwortartig zu notieren. Einerseits ist eine solche unvoreingenommene Annäherung an das Bild sehr wertvoll, da es keinen zweiten „ersten Eindruck“ gibt. Zum anderen kann man sich so für die weiteren Schritte von der eigenen Voreingenommenheit distanzieren.
0. Subjektiver Eindruck |
1. Deskription |
3. Kontext |
4. Interpretation |
Obwohl die nachfolgende Aufzählung einerseits umfassend gedacht und dicht umgesetzt ist, fehlen sicherlich Aspekte. Andererseits ist die Aufzählung für eine allgemeine Bildanalyse kurz gehalten. Jedoch ist es andererseits kaum möglich, auf alle aufgeführten Aspekte einzugehen. Dies ist auch nicht nötig, denn letztlich hängt die Auswahl der zu besprechenden Aspekte vom Zweck der Bildanalyse ab. Sollen formalästhetische Strategien erforscht werden? Oder Erkenntnisse zum materialtechnischen Verfahren gewonnen werden? Wird im Werk nach einer inhaltlichen Kernaussage gesucht? Oder sollen neue Aussagen zur Biografie der KünstlerIn gemacht werden? Vielleicht geht es aber darum, vermeintlich historische Fakten zu verifiziert? Hier zeigt sich, dass die Gliederung und Aufzählung der Aspekte mit Vorsicht zu betrachten ist. Insofern kann die vorgestellte Methode eine Hilfe sein, aber sie verspricht keinen sicheren Weg zu einer einwandfreien Bildanalyse.
Viel wichtiger als ein streng methodisches Vorgehen ist Neugier und eine wachsame Sensibilität, gestalterische Grundkenntnisse der Fachbegriffe und Kontextwissen, die Fähigkeit Aspekte kreativ und schlüssig zu verknüpfen sowie kritisch zu diskutieren.
1. Werkimmanente Deskription
Die Kerndaten verorten das Werk und sind teils direkt ablesbar. Wenn es sich bei einem Unikat nicht um das Original, sondern nur um eine Reproduktion handelt, oder wenn die entsprechenden Informationen fehlen, muss gegebenenfalls auf eine zuverlässige Quelle zurückgegriffen werden.
- Titel, Autorschaft (inkl. Lebensdaten) und Entstehungszeit
- Medium/Material (z.B. Öl auf Leinwand, Skulptur aus Marmor, Fotografie, Videoprojektion, Performance) und Masse (Höhe, Breite, Tiefe)
- Standort (Ausstellung, Sammlung, Publikation, Website)
Die werkimmanente Beschreibung kann direkt am Werk ohne zusätzliche Quellen vorgenommen werden. Liegt bei einem Unikat nicht das Original vor, so ist eine seriöse Reproduktion zu verwenden oder zumindest auf mehrere Reproduktionen zurückzugreifen, um visuelle Verfälschungen auszuschliessen. Dieser Schritt erfordert eine gute Beobachtung und etwas Erfahrung in der Bildgestaltung.
- Einzelne Grundelemente
- Inhalt (was): Bildgattung (z.B. Landschaft, Stillleben, Porträt) und Denotat (im zeichentheoretischen Sinn die Grundbedeutung von offensichtlich Dargestelltem wie Figuren, Gegenständen und Umgebung sowie die sachliche Beschreibung von Zustand, Handlung oder Aktion, z.B. drei Frauenakte anmutig stehend, ein mit Weinlaub gekrönter Mann trinkend, Berglandschaft im Nebelmeer oder – bei einem abstrakt/konkreten Bild – ein schwarzes Quadrat).
- Formales (wie): z.B. Farbe, Form, Textur, Raum, Bewegung, Licht. Dieser Aspekt verlangt eine gute Wahrnehmung und starken Fachwortschatz.
- Material/Technik (wie): präzise Beschreibung von Material und technische Anwendung (z.B. deckend oder lasierend gemalt, geklebt, gespachtelt, geprägt, gewoben, mit Polfilter fotografiert, mit Pinsel, Spachtel oder Körperteilen gemalt). Dieser Aspekt erfordert eine gute Bildvorlage sowie Erfahrung mit dem jeweiligen Medium und im professionellen Bereich, eine forensische Untersuchung mit technischen Geräten.
- Deren Ordnung
- Kontraste: grosse/kleine und harte/weiche Kontraste sowie andere Beziehungen der Grundelemente zueinander.
- Komposition: Anordnung im Bildraum (Vorder-, Mittel- und Hintergrund, oben/unten, links/rechts) und in der Bildfläche (Kompositionslinien mit Horizontalen, Diagonalen, Schrägen sowie Kompositionsformen, Rhythmen, Symmetrien, Ausschnitte).
- Deren Konzepte
- Ästhetischer Modus (Grad der Expressivität, Idealisierung, Wirklichkeitsnähe etc.). Kommunikativer Modus (Ironie, Provokation, Ernsthaftigkeit, Täuschungsabsicht). Diese Aspekte erfordern viel Erfahrung sowie Fingerspitzengefühl. Sie überschneiden sich durch die Vermutungen bereits mit der Interpretation, was in der Diskussion zu verhandeln sein wird.
2. Kontext
Die werkimmanente Beschreibung lieferte bereits ein wichtiges Fundament und wertvolle Informationen für die weitere Untersuchung. Um die Analyse stichfest zu machen, können in diesem Schritt nun dem jeweiligen Analysezweck entsprechend weitere Hintergrundinformationen beigezogen – soweit diese bekannt sind – und im Bild erschlossen werden. Folgende Aspekte sind weder vollständig noch konsistent. Sie zeigen Widersprüche und greifen ineinander, können jedoch zur Anregung dienen.
- Stilgeschichte: Zuordnung von Epochenstil und persönlichem Ausdruck.
- Ikonografie: Der Begriff Ikonografie stammt aus der Kunstgeschichte („Bild“-„Schreiben“). Gemeint ist die weitere, hintergründige Bedeutung (Symbolik bzw. Konnotation) von Inhalt, Form und Material, was durch Kulturwissen entschlüsselt werden kann (z.B. Palmblatt als Attribut für Märtyrer, Weiss als Farbsymbol für Unschuld, weibliche Figur mit Waage und verbundenen Augen als Justitia und Allegorie der Gerechtigkeit, Filz und Fett als Symbol für Isolation und Energie). Aus kunsthistorischer Sicht handelt es sich hierbei um eine reine Übersetzung und somit (noch) nicht um eine Interpretation. Dies erfordert Expertenwissen bzw. bei Bedarf weitere Recherchen bzw. Untersuchungen.
- Biografisch-psychologische Aspekte: Geschichte und Anliegen der Autorenschaft, Auftraggeberschaft, von Zielpublikum und Dritten.
- Kulturhistorische Aspekte: Kultureller, sozialer und gesellschaftlicher Kontext (z.B. Mythologien und Symbolwelten, Narrative, Werte, Herrschaftssysteme, Technologien, …)
- Wirkungsgeschichte: Wirkung ist immer adressatenorientiert zu beschreiben. Wenn die Beschreibung der Wirkung von einem selbst ausgeht, muss man sich bewusst sein, dass man selbst als Stellvertreter einer bestimmten Gruppe agiert, was zu Fehlern und Unsicherheiten führen kann. Mit Erfahrung und Empathie ist eine adressatendifferenzierte Beschreibung möglich, bleibt aber z.B. bis zur Bestätigung durch eine Erhebung eine Vermutung. Mit Wirkungsgeschichte ist jedoch nicht nur die direkte Wirkung auf die unmittelbare Wahrnehmung der Rezipienten zu verstehen sondern auch die Gesamtheit der Folgen, die dadurch ausgelöst wurden.
- Werkgeschichte: Auftragsbeschreibung, Entstehungsgeschichte, Ausstellungs- bzw. Publikationskontext, Werkfunktion, Restaurierungsgeschichte, Provenienz (Besitz-/ Herkunftsgeschichte), Rezeptions- und Interpretationsgeschichte, Wirkungsgeschichte…
3. Interpretation
Die Interpretation ist das eigentliche Ziel einer Bildanalyse. Es sollte jedoch klar sein, was der eigentliche Zweck der Analyse ist. Sollen neue Aussagen über das Werk, Akteure oder der kulturgeschichtliche Kontext weiter erschlossen oder bereits vermutete Fakten überprüft werden? Dazu werden alle zuvor erarbeiteten Ergebnisse ausgelegt und durch geschicktes Abwägen und Verknüpfen weiterer Aussagen hermeneutisch interpretiert und diskutiert.
- Den subjektiven und ursprünglich festgehaltenen Zugang differenziert zur Deskription und zum Kontext einordnen.
- Zweckbestimmte Interpretation
- Ikonologische Interpretation: Begriff der Kunstgeschichte („Bild“ + „Lehre“). Deutung über bestehende Erkenntnisse hinaus, womit durch die Verknüpfung der inhaltlichen, formalen, technischen Aspekten der Deskription und von Kontext neue Thesen/Kernaussage zu formalästhetischen Strategien, materialtechnischen oder inhaltlichen Aspekten, Werten, Haltungen allenfalls im Vergleich zu anderen Werken, Zeiten und Kulturen formuliert werden können (z.B. wird im Werk die Glorifizierung eines bestimmten Machthabers in Frage gestellt, die Aktivierung der Wahrnehmung durch optische Irritation relativiert die Wirklichkeit als sicheren Wert, memento mori versteht sich als Akzeptanz der Vergänglichkeit, die Unterdrückung verschiedener Geschlechter in der westlichen Kultur wird kritisiert, Schmerz wird in Werk A erhabener als in B dargestellt, die Bildstrategien von Künstlerin A zur Darstellung von Macht unterscheiden sich nicht zu B, …).
- Kulturhistorische Interpretation: Was kann mit dem historischen Kontext im Werk neu interpretiert werden oder welche historische Erkenntnisse können aus dem Werk gewonnen werden?
- Biografisch-psychologische Interpreation: Was kann mit der Biografie im Werk neu erkannt werden oder was für die Biografie?
- Kommunikationsästhetische: Wer gestaltet im Auftrag von wem warum, was, wie für wen und mit welcher Wirkung? (adaptierte Lasswell-Formel)
- Oder andere werkspezifische Thesen/Aussagen entwickeln.
- Diskussion und Reflexion der Aussagen.
Beitragsbild: Caspar David Friedrich, Wald im Spätherbst, 1835 (gemeinfrei von wm)